Das Grosshirn

Der Theologe Paul Schulz sagt: „Der Neokortex, der jüngste Gehirnteil, ist das Spezifikum der höheren Entwicklungsstufe des Menschen. Er ist schon ganz früh bei Wirbeltieren in elementaren Ansätzen vorhanden, hat sich vor fünf bis sieben Millionen Jahren innerhalb der Evolution der Hominiden verselbstständigt und durch den Ausbau der Grosshirnrinde einen wesentlichen Entwicklungssprung gemacht. Vor 200.000 und vor 100.000 Jahren ist er noch einmal sprunghaft expandiert. In seinem jetzigen Zustand der Höchstentwicklung ist er ausschliesslich beim Homo sapiens, dem Jetztmenschen ausgeprägt. Ausschliesslich in ihm und mit ihm ist das Denken möglich, zugleich alle daraus entstehenden Erscheinungsformen wie Erkenntnis, Wissen, Bewusstsein, Intelligenz, Rationalität – Geist, Kultur.

Die Leistung des Neo-Kortex besteht darin, dass die nonverbalen Codierungen des Limbischen Systems durch das Denkhirn in ein neuartiges System abstrakter Begriffe umgesetzt werden. Es entsteht also im Denkhirn eine eigene Welt von Begriffen, mit denen ein kognitives Erfassen von Natur und Geschehnissen möglich wird. Mit diesen Begriffen entwickelt sich eine eigene Bewusstwerdungswelt des Denkenden mit rationaler Systematik. Der Denkende kann seine Wahrnehmungen und Erfahrungen genauer benennen und damit gegeneinander abgrenzen. Er kann sie in seine Selbstreflexion und in allgemeine Zusammenhänge stellen. Er kann aus ihnen Lehren ziehen und vorsorglich Pläne entwickeln und somit im Voraus seine Sicherheitsmassnahmen erhöhen. Er kann aus ihnen heraus zugleich Wünsche und Vorhaben entwickeln, kann sich Imaginationen und eine Fantasiewelt zusammenbauen, unabhängig von Zeit und Raum, unabhängig von Natur und Wirklichkeit überhaupt. Er kann dabei seine Bindungen an die erfahrene Wirklichkeit überhaupt lösen und neue, andere Wirklichkeiten erfinden, die es gar nicht gibt.“ 

Trotz seiner Sonderstellung wäre es falsch, den Neo-Kortex isoliert zu verstehen als ein in sich abgeschlossenes geistiges Denkzentrum, gleichsam als einen aufgepfropften Fremdkörper im Kopf. Schon von seinen Anfängen her ist der Neo-Kortex eine kontinuierliche Weiterentwicklung speziell des voraus geschalteten Limbischen Systems und mit ihm ständig aufs Engste verbunden. Von daher besteht natürlich auch ein unmittelbarer Bezug zum Stammhirn und darüber eine kurzlinige Anbindung an die Sinne als dessen Aussenstationen.


Aufgabe: Selbstbestimmung

Das Grosshirn dient dazu, die „Wirklichkeit“ aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten. Ist das Stammhirn noch auf Gefühlen und Instinkten basierend, das Zwischenhirn auf Emotionen und „schwarz weiss“ Denkens, so kann das Grosshirn hingegen „Graustufen“ erkennen. Das Grosshirn baut sich ein Weltbild auf, mit dessen Hilfe es seine Aktion und Reaktion steuert. Beim Aufbau derartiger Modellbilder und der dazugehörenden ständigen Wahrnehmung übernehmen die optischen Sinne die Leitfunktion. Durch diese Fähigkeiten ermöglicht das Grosshirn eine Selbstbestimmung der Reaktion.    


Zeitbezug: Zukunft

Natürlich kann das Grosshirn nicht die Zukunft vorhersagen. Doch es verfügt über die Fähigkeit die Zukunft zu denken. Der Mensch kann sich Pläne machen, welche zuerst im Gehirn entstehen und danach umgesetzt werden. Sich vorstellen, wie wohl die Zukunft aussehen kann, gehört sicher zu den herausragenden Fähigkeiten des Grosshirns, aber alles hat seine Kehrseite. Angst können alle drei Hirne empfinden, doch die Angst vor der Zukunft, ohne dass eine konkrete Bedrohung besteht, die bleibt dem Grosshirn vorbehalten.  


Soziale Beziehung: Das Individuum

Wo die Sicherheit beim Stammhirn noch in der Menge und beim Zwischenhirn noch in der strukturierter Gruppe liegt, entwickelt sich die Sicherheit beim Grosshirn im Bedürfnis des Einzelnen. Davon ausgehend, dass alle Lebewesen in der einen oder anderen Art ein Bewusstsein haben, so hat doch nur der Mensch ein Selbstbewusstsein, welches von der Fähigkeit des Grosshirns abstammt.  


Anspruch: Wissen

Eine weitere Errungenschaft des Grosshirns ist die Errungenschaft der Sprache. Wo die beiden „alten“ Gehirne nur non-verbal kommunizieren (was wir heute Körpersprache nennen) konnten, verfügt das Grosshirn über die Fähigkeit der Kommunikation mit Symbolen in Sprache, Schrift und Bild. Diese Errungenschaft machte es erst möglich Wissen zu übertragen und für Jahre zu speichern, selbst über Generationen hinweg. 

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